Page 6 - Win Labuda Bildermacher
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Zeit ist einer der wesentlichen Aspekte des menschlichen
                                                       Schaffens. Die Endlichkeit jedes Einzelnen von uns ist der
                                                       Kernpunkt jeder Religion und Philosophie, die vom Menschen
                                                       erdacht wurden. Und der Kampf gegen diese Endlichkeit trug
                                                       über die Jahrtausende hin die verschiedensten Früchte. Dem
                                                       weiblichen Prinzip wohnt die Idee inne, durch das Gebären
                                                       eines Kindes in die Ewigkeit einzugehen. Demgegenüber steht
                                                       das männliche Prinzip, das durch geistige Nachkommen-
                                                       schaft die Endlichkeit dann zu überwinden vermag, wenn der
                                                       Gedanke oder das Werk Unsterblichkeit erlangt. Dieser Aufsatz
                                                       ist der Versuch einer Tochter, sich mit einem geistigen Kind
           Abb. 2 Zeitskala 1, 1998, Holzschnitt       ihres Vaters auseinander zu setzen und damit eine Brücke
                                                       zu schlagen zwischen weiblichem und männlichem Prinzip,
                                                       zugleich aber auch zwischen Werk und Wirklichkeit.

                                                       Der Aspekt Zeit, als dargestelltes Kontinuum, hielt in die Kunst
                                                       zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt Einzug als in die Lite-
                                                       ratur oder in die Naturwissenschaften. Dies lässt sich erklären
                                                       durch die Nichtstoff-lichkeit der Zeit. Als Ding lässt sich Zeit
                                                       nicht darstellen, lediglich durch Progression einzelner Szenen.
                                                       Diese Darstellungsart wurde u. a. von den Griechen im Fries
                                                       der Tempel gebraucht, um eine Schlacht darzustellen. (Parthe-
                                                       non-Tempel, Akropolis, Athen, begonnen 449 v. Chr.)

                                                       Dabei wurden im oberen Teil des Tempels in einzelnen recht-
                                                       eckigen Feldern die verschiedenen Szenen in ihrer zeitlichen
                                                       Abfolge wiedergegeben. Den Griechen war allerdings keines-
                                                       wegs daran gelegen, die Zeit darzustellen, sondern viel eher
                                                       das heldenhafte Handeln eines Kämpfers. Diese Darstellungs-
                                                       weise wurde im Mittelalter beibehalten.

                                                       Erwähnenswert sind in dem Zusammenhang die Stundenbü-
                                                       cher des Herzogs von Berry, Ende des 14. Jh. Diese Bücher,
                                                       in denen Gebete für die verschiedenen Tageszeiten festge-
                                                       halten wurden, enthalten reich ausgestattete Monatsbilder
                                                       und Darstellungen von Heiligenviten. Auch in diesem Fall wird
                                                       das Leben der Heiligen in einer historischen Abfolge einzelner
                                                       Szenen dargestellt. Bis zur Darstellung von gegenwärtiger Zeit
                                                       bzw. dem Phänomen, der Veränderung, vergingen noch viele
                                                       Jahrhunderte.
                                                       Ich sehe den Beginn dieser besonderen Art der Darstellung in
                                                       den seriellen Arbeiten Monets Ende des vorletzten Jahrhun-
                                                       derts. Wichtig ist jedoch nicht nur der Aspekt Zeit, sondern
                                                       auch die serielle Darstellung von Bildinhalten. Dieses Konzept
                                                       war damals ein Novum, welches teils skeptisch, teils mit
                                                       Begeisterung aufgenommen wurde. Am Anfang der Serien-
                                                       arbeiten Monet‘s stehen die Heuschober bei Giverny, 1885,
                                                       65 x 81 cm, Privatsammlung, die zu verschiedenen Tageszei-
                                                       ten gemalt wurden. Der holländische Kritiker Byvanck schrieb
                                                       nach einem Besuch von Monets Ausstellung im Mai 1891 von
                                                       seiner Verwirrung, die Anfangs die Wiederholung eines ständig

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