Page 31 - Win Labuda Bildermacher
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Viel subtiler im Ausdruck und weniger leicht zu deuten sind die
Bilder F 140 oder auch F 009. Letzteres zeigt eine schwarze,
schwungvoll gezeichnete Wellenlinie auf einer weißen Wand,
unter der sich, gewissermaßen als Kontrapunkt, eine bereits
verblasste, gegenläufige Linie befindet. Hat ein Kind mit einem
Stück Kreide in der Hand im Vorbeigehen und nur aus der
Bewegung heraus dieses Zeichen erstehen lassen oder wollte
jemand mit einer Wellenlinie bewusst Unendlichkeit zum Aus-
druck bringen? Die Ausschnitthaftigkeit der Fotografie scheint
gerade letzteren Aspekt zu betonen; die abgeschnittene Linie
setzt sich vor unserem inneren Auge fort und läuft ins Unend-
liche. Bei F 140 erscheint auf heller Mauerfläche ein gerader,
waagerecht verlaufender, Bleistift-Strich, der in regelmäßigen
Abb. 23 Sinus an der Wand, Venedig, 1984, F 009 Abständen mit Kreuzen versehen wurde, wobei die Kreuze
genau an ihrem Schnittpunkt auf der Linie zu „hängen“ schei-
nen. Hier drängt sich dem Betrachter keine bestimmte Lesart
auf. Die Striche des Zeichners mögen einem verbindlichen
Code gefolgt oder auch ein persönliches Chiffre sein, das nur
durch den Zeichner selbst oder eine bestimmte Gruppe entzif-
fert werden mag. Diese Rätselhaftigkeit ist es, welche uns die
dargestellte Zeichenkette besonders interessant macht.
Die Schrift an der Wand Vom Zeichen oder Symbol zum geschriebenen Wort ist es kein
weiter Schritt; ist doch die Schrift lediglich eine Folge von
Zeichen, bestimmt für einen Kreis von Kundigen. Im vergange-
nen Jahrhundert hat zwischen den Kulturen ein sehr viel beleb-
terer Austausch stattgefunden als jemals zuvor. Wie begrenzt
dieser Prozess jedoch in Wahrheit ist, lässt sich erahnen, wenn
man die Vielfalt betrachtet, welche auch heute noch in der
Welt der Schriftzeichen existiert. Mein Vater hat seine Mauern
und Wände in vielen Ländern der Erde aufgenommen. Bei den
Mauerstrukturen und den abstrakt bemalten Wänden standen
Kulturunterschiede nicht im Vordergrund, da diese Art der
Bilder zu den wenigen gehören, welche von kosmopolitischem
Wesen sind und kulturelle Grenzen mühelos überschreiten. Die
im Folgenden beschriebenen Fotografien nehmen Bezug zu den
unterschiedlichen Facetten des Schrift- und Sprachgebrauchs
und zeigen uns Nähe und Distanz, welche auf unserer Erde
existieren.
Das Wort auf der Wand hat verschiedene Bedeutungsebe-
nen und Hintergründe. Es kann offiziellen Charakter haben,
als Verbot oder Warnung oder auch als Name einer öffentli-
chen Einrichtung oder eines Unternehmens erscheinen. Wo
früher für diese Arten von Wörtern an der Wand noch gemalte
Schrift üblich war, finden wir sie heute meist auf Schildern, die
weniger vergänglich sind als Farbe. Ganz anders die persön-
lichen Inschriften des Einzelnen, des Mitteilsamen, der seine
individuellen Herzensbotschaften auf der Mauer verewigt. Sie
Abb. 24 „NON“, Geschichte Frankreichs, Paris, sind entweder an die ganze Welt oder an einen geliebten oder
1999, F 097 gehassten Menschen gerichtet. Beginnen wir unsere Betrach-
tung mit solchen Nachrichten, die an eine breite Öffentlichkeit
adressiert sind, so kommen wir zu dem Bild „NON, Geschichte
Frankreichs“ (F 097).
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