Page 46 - Win Labuda Bildermacher
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Realitätsempfindung haben kann. Nicht durch Filter oder Nach-
                                                       bearbeitung, sondern durch ein anderes Realitätsempfinden
                                                       werden wir mit den täuschenden Erscheinungsbildern und der
                                                       Zwiespältigkeit der Dingwelt konfrontiert.

                                                       Die Welt, welche Siskind für uns ablichtet und damit in einen
                                                       neuen Zusammenhang stellt, besteht aus Textilien, Häu-
                                                       serecken, gestapelten Kisten, dem Asphalt der Straße und
                                                       insbesondere der Wand und ihren unterschiedlichen Erschei-
                                                       nungsformen. Diese und unzählige andere Objekte, die sein
                                                       Interesse erwecken, werden von ihm in die Flächigkeit der
                                                       Fotografie gewandelt und damit einer doppelten Abstraktion
                                                       unterzogen. Siskinds Fotografien machen uns vertraut mit
                                                       diesem Prozess und lassen uns die abstrakt-malerisch anmu-
                                                       tenden Dimensionen unserer alltäglichen Umwelt entdecken.
                                                       Seine Bilder sprechen die Sprache seiner Zeit und erscheinen
                                                       uns oft als die fotografische Umsetzung der künstlerischen
                                                       Ziele, welche sich die Abstrakten Expressionisten seinerzeit
                                                       gesetzt hatten. So können wir, in einen gänzlich neuen Zusam-
                                                       menhang gestellt, Jackson Pollocks verlaufende Farbspuren
           Abb. 46 Aaron Siskind, Gloucester 1H, 1944  wiederentdecken und auch die schwarzen gestischen Pinsel-
                                                       striche, welche uns an die Bilder eines Franz Kline erinnern.

           Lee Friedlander                             Lee Friedlander ist ein amerikanischer Künstlerkollege Sis-
                                                       kinds, der sich mit einem bedeutenden fotografischen Beitrag
                                                       ebenfalls dem Erscheinungsbild der Mauer gewidmet hat.
                                                       Obwohl auch sein Schwerpunkt in der urbanen Umgebung
                                                       liegt, so führt doch sein Blick auf diese Umgebung zu ganz
                                                       anderen Ergebnissen. Bei ihm steht bei der Betrachtung der
                                                       Wand das Alphabet im Vordergrund, was sich schon im Titel
                                                       seines Fotografiebandes „Letters from the people“ (Briefe von
                                                       den Menschen) andeutet. Er widmet sich thematisch aufgeteilt
                                                       den Buchstaben, Zahlen und Sätzen, die er auf den Wänden
                                                       der amerikanischen Großstädte vorfindet. Diese stellt er nicht
                                                       isoliert, oder im engen Zusammenhang mit dem Erscheinungs-























           Abb. 47 Lee Friedlander, Austin, Texas, 1979      Abb. 48 Lee Friedlander, New Orleans, 1982

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