Page 49 - Win Labuda Bildermacher
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Buchstaben, Wörter und Zahlen haben unterschiedliche
                                                       Erscheinungsformen in seinem Werk. Mal scheinen sie zusam-
                                                       menhanglos nebeneinander gestellt, mal steht isoliert eine
                                                       Zahl auf einer Wand oder auf Holz, dann ist es ein Schild mit
                                                       einer Aufforderung oder schließlich das geschriebene Geständ-
                                                       nis. Durch diese Fotografien werden wir mit einer wichtigen
                                                       Komponente im gesamten künstlerischen Schaffen meines
                                                       Vaters konfrontiert - mit dem großen Kontinuum, dem Faktum
                                                       Zeit. Das Abblättern der Farbe, der Zerfall der Mauer, das
                                                       Verblassen der Buchstaben und Zahlen, aber auch die Instand-
                                                       setzung von Verletzungen der Maueroberfläche; all das wird
                                                       uns hier vor Augen geführt und wir sehen uns konfrontiert
                                                       mit Gegenwart und Vergangenheit, mit dem ewig währenden
                                                       Zyklus von Verfall und Erneuerung.

                                                       In zweifacher Weise kommen wir in Berührung mit dem Phäno-
                                                       men der Unendlichkeit und der Begrenztheit; die Mauer steht
                                                       uns gegenüber als ein alltägliches Monument der urbanen
                                                       Begrenzung und wird so gleichsam zur stillen Aufforderung,
                                                       die Grenzen zu überwinden und vor unserem inneren Auge
                                                       die Vorstellung einer unendlichen Welt hinter den Grenzen zu
                                                       erschaffen. Der Blick des Fotografen auf das alternde Gesicht
                                                       der Mauern ist aber auch der fragende Blick hinter die Grenzen
                                                       unseres eigenen Seins und der unausgesprochene Wunsch,
                                                       hinter diesen Grenzen möge sich eine neue, vielleicht unendli-
                                                       che Dimension auftun.

                                                       Das Werk meines Vaters ist deshalb von unübersehbarer Aktu-
                                                       alität, weil es zu einem Zeitpunkt endgültiger Anerkennung der
                                                       Fotografie als eigenständige Kunst wie vielleicht kein anderes
                                                       eine Brücke schlägt zwischen der Malerei des 20. Jahrhunderts
                                                       und der Fotografie unserer Zeit. Mein Vater versetzt uns mit
                                                       seinem Werk in eine Welt der Wände und Mauern, deren Ver-
                                                       änderungen er so zu Zeichen unserer eigenen Poesie werden
                                                       lässt. Nachdem wir uns damit auseinandergesetzt haben, wird
                                                       der Gang durch unsere Gassen zu einem Erkundungszug durch
                                                       diese für uns neue Welt der Zeichen, Bilder und Symbole. Und
                                                       das Gesicht unserer Städte wird sich mit jedem Schritt, den
                                                       wir tun, wandeln. Unsere veränderte Wahrnehmung wird die
                                                       malerische Schönheit, den Humor und die Leidenschaft finden,
                                                       welche sich in mannigfaltiger Weise auf den Mauern offenbart,
                                                       und unsere täglich sichtbare Welt wird um Vieles reicher sein.


           Literatur                                   [1]   THIEL, AXEL: Graffiti Lexikon,1997: http://www.graffiti.
                                                            org/axel/axel_6.html
                                                       [2]   WILHELMI, CHRISTOPH(Hrsg.): Handbuch der Symbole in
                                                            der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.,
                                                            1980.
                                                       [3]   KREUTZER, PETER (Hrsg.): Graffiti Lexikon, München,
                                                            1986.
                                                       [4]   WALTHER; INGO F. (Hrsg.): Kunst des 20. Jahrhunderts,
                                                            Fotografie von Klaus Honnef, Bd. 2, Köln 1998.
                                                       [5]   Der Kunst Brockhaus, Erster Band, Wiesbaden, 1983.

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