Page 92 - Win Labuda Bildermacher
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alte Bräuche, verbunden mit dem Glauben; etwa der jüdische
                                                       Brauch, in die Mauerfugen der Klagemauer kleine Zettel mit
                                                       Bitten, Gedanken, Rechtfertigungen oder auch Nachrichten
                                                       an diejenigen einzufügen, die nicht mehr unter uns sind. Zum
                                                       anderen waren es die tibetanischen Gebetsfahnen, welche
                                                       mich zu der Formvorstellung des Zeittunnels geführt haben.
                                                       Diese in der tibetischen Sprache Dar-Chog genannten Kultob-
                                                       jekte aus weißen oder mehrfarbig bedruckten Tüchern finden
                                                       sich in Tibet an markanten Wegkreuzungen, Bergspitzen, Häu-
                                                       serdächern und Bäumen. Selbst in der Kargheit der unbewach-
                                                       senen Berglandschaft sind dort Stangen in die Erde getrie-
                                                       ben, an denen sich Gebetsfahnen befinden. Die Fahnen sind
                                                       beschrieben oder bedruckt mit Gebeten und in der Vorstellung
                                                       der Tibeter werden die aufgebrachten Gebete mit dem Wind
                                                       in die Unendlichkeit, hin zu den Göttern getragen. In meiner
                                                       Vorstellung bewegt sich das Kontinuum Zeit durch meinen
                                                       Zeittunnel hindurch. Ein in die Längsspalten eingefügtes Blatt
                                                       enthält, vielleicht in grafisch verschlüsselter Form, meine Bitte
                                                       um Erfüllung der großen Anliegen der Menschheit: Der Sieg
                                                       über den Hunger, der Sieg über den Fanatismus und das Recht
                                                       auf Anhörung und gewaltfreie Meinungsäußerung der Anders-
           Abb. 5 Zeittunnel II, 2000, S 002, aus der Serie „der
           Raum“, Buchenholz                           denkenden. Meine Bitten werden von der Zeit hinweg getra-
                                                       gen, hinein in den Dom der Unendlichkeit, den Raum, in dem
                                                       die Zeit nicht mehr fortschreitet, sondern in komprimierter
                                                       Stille die wertvollen Menschheitsgedanken ruhen und wirken.

           Serie die Zeit                              Mit dem Gebrauch von Zahlen erfolgte der prinzipielle Ein-
                                                       schnitt in die Menschheitsgeschichte, welcher archaisches
                                                       und wissenschaftliches Denken voneinander trennt. Die Serie
                                                       Skalen der Zeit orientiert sich an dem Vorgang, ein analog
                                                       ablaufendes Geschehen wie beispielsweise die Zeit einer
                                                       digitalen Teilung zu unterziehen und es damit durch Zahlen
                                                       beschreibbar, also teilbar, zählbar, vergleichbar und berechen-
                                                       bar zu machen. Der Vorgang ist Basis und Ursprung jeder
                                                       Naturwissenschaft. Ich habe versucht, diesen entscheidenden,
                                                       vielleicht entscheidendsten Vorgang der Menschheitsgeschichte
                                                       durch meine Skalenbilder der Welt des Bildhaften zugänglich
                                                       zu machen und bildfeld-überquerende Zeitskalen als Reliefs
                                                       und auch als grafische Blätter herausgegeben.
                                                       Eine Skala ist ein seriell aufgebautes, grafisches Element,
                                                       welches aussich wiederholenden Teilungsstrichen besteht. Auf
                                                       dem Untergrund, auf welchen sie sich wegen ihrer Gebrauchs-
                                                       bestimmung befindet, ist sie zumeist als grafische Einheit
                                                       durch ihren Beginn und ihr Ende gekennzeichnet. Ordnet man
                                                       jedoch die Teilungsstriche auf einem dafür bemessenen Unter-
                                                       grund in einer solchen Weise an, dass der Eindruck entsteht,
                                                       der Untergrund sei lediglich Ausschnitt aus einem größerem
                                                       Gesamten, so entsteht die Fiktion, dass die Skala aus dem
                                                       Unendlichen komme und in die Unendlichkeit hin weiterver-
                                                       laufe. Der Betrachter vollzieht hier also einen Teil des Werkes,
           Abb. 6 Zeitskala 8, 1998, ZS 008 aus der Serie „die Zeit“,   indem er gedanklich Bildinhalte in Bereiche außerhalb des
           Holzschnitt                                 Bildfelds verlagert. Wie die Zeit fortschreitet, sind Zeitskalen

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