Page 14 - Win Labuda Bildermacher
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Als eine Tochter von Win Labuda konnte ich ihn von Kindes-
beinen an in den Städten dieser Welt auf seinen fotografi-
schen Streifzügen begleiten. In diese frühen Jahre lässt sich
meine Faszination für die Bildende Kunst auf der einen und
das fotografische Werk meines Vaters auf der anderen Seite
zurückdatieren. Über die Jahre hatte ich das Glück, mit ihm in
ständigem Austausch über Kunst und bildnerisches Denken zu
stehen; er prägte mein Sehen und er weckte meine Leiden-
schaft für die Moderne. Im Laufe meines Studiums lernte
ich, die Leidenschaft etwas zurückzustellen zugunsten einer
Betrachtung und Beurteilung von Kunst nach eher wissen-
schaftlichen Maßstäben. Als Kunsthistorikerin habe ich mich
insbesondere der Kunst des 20. Jahrhunderts und so auch
der Fotografie dieses Zeitabschnitts gewidmet. Dieser Text
stammt also aus der Feder einer Beobachterin, in deren Herz
das gleiche Blut fließt wie in dem des Fotografen. Nüchterne
Beobachtung und Beurteilung paaren sich mit der tiefen Zunei-
gung, welche ich, eine Tochter, für das Werk meines Vaters
empfinde.
Einleitung In dem vorliegenden Aufsatz zum fotografischen Werk meines
Vaters steht die Mauer im Mittelpunkt. Unendlich viele Facet-
ten ihrer Erscheinungsform werden hier gezeigt. Mal erscheint
sie nackt und beinahe banal; erst bei näherem Hinsehen zeigt
dann der Bildausschnitt malerische Dimensionen in der Nähe
mancher Kunstwerke des vergangenen Jahrhunderts. Manch-
mal erscheint sie auch als Trägerin ungekannter Zeichen der
Witterung, der Zeit, des Verfalls oder der Erneuerung. So ist
die Mauer Zeichentafel der Menschen und verbotener Notiz-
block der großen und kleinen Gefühle. Die ständige Entwick-
lung neuer Werkstoffe hat es mit sich gebracht, dass nicht
mehr alle Wände auch wirklich Mauern sind. Nur die „alten
Mauern“ bestehen noch aus dem mühevoll behauenen Granit
oder aus dem uns Europäern vertrauten roten Backstein. In
diesem Sinne steht Mauer bei Win Labuda auch für Wände,
Tore, Türen und überhaupt für alles, was im Außenraum die
Möglichkeit bietet, darauf eine Nachricht anzubringen.
Die Wand, welche uns täglich umgibt, an der wir jeden Morgen
und jeden Abend vorbeigehen, die uns so vertraut ist, dass
wir sie nicht mehr wahrnehmen, verwandelt das Auge des
Künstlers in ein beredtes Gegenüber, in einen Spiegel unseres
Lebens und somit wird sie selbst zum Zeichen von Leben und
Zeit. Die in dieser Arbeit gewählten fotografischen Ausschnitte
sind eng verknüpft mit der persönlichen und künstlerischen
Geschichte meines Vaters, mit seinen vielen Reisen und den
Orten seines Vertrauens und Wohlbefindens. Sie sind sein
ureigenster Focus. Das Vertraute und Alltägliche der gewähl-
ten Ausschnitte mag dazu verleiten sie zu überfliegen wie
ein altbekanntes Gesicht von dem man glaubt, man kenne
Abb. 2 Aaron Siskind, Chicago 30, 1949 es bereits. Um die Sensibilität und Offenheit zu schärfen,
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