Page 100 - Win Labuda Bildermacher
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neue Identität, um nach seiner Vorstellung eine neue Realität
ins Leben zu rufen.
3 - Die gedehnte Realität im Sinne einer Zeitvorstellung
Beispiele: Der Fotograf Jan Dibbets hat am 21. Dezember
1970 von den Innenräumen der Galerie Konrad Fischer in Düs-
seldorf aus in Zeitabständen von jeweils sechs Minuten 80 Mal
den gleichen Fensterausblick auf eine Straße fotografiert. Die
Aufnahmeserie begann in der morgendlichen und endete mit
der abendlichen Dunkelheit. Die 80 Bilder wurden als Serie,
in zehn Spalten und acht Zeilen angeordnet und dann auf
eine Fotowand der Abmessungen 175 x 180 cm kopiert. Die
Fotografin Monika Baumgartl hat erstmalig im Jahre 1968 in
Griechenland stündlich den hell beleuchteten Mond am Himmel
mit einer Belichtungszeit von 1 Sekunde fotografiert und durch
Mehrfachbelichtung bei gleich bleibender Kamerastellung
immer auf das gleiche Negativ belichtet. Dadurch ergibt sich
eine zeitlich gestufte, die Umlaufbahn des Mondes um die Erde
beschreibende Diagrammlinie.
4 - Die Realität, eingebunden in eine künstlerische
Konzeptvorstellung
Beispiel: Die Fotografen Bernd und Hilla Becher haben über
einen Zeitraum von etwa 30 Jahren Strukturen der deutschen
Industriegeschichte wie beispielsweise vom Abriss bedrohte
Wassertürme, Hochöfen, Gasbehälter oder auch Fachwerk-
häuser des Siegerlandes fotografiert. Das dokumentarische
Werk wird in 6, 9 oder mehrteiligen Tafeln einer Typologie
zusammengefasst. Es gibt z. B. ein 15-teiliges Tableau in dem
die Bechers nicht nur sehr ähnliche Fachwerke sondern auch
Häuser von annähernd gleicher Größe abbilden. So wird die
Gleichartigkeit dieser Architektur im Sinne einer quasi-indus-
triellen Fertigungsform nochmals deutlich. Im Unterschied zu
Punkt 3 ergibt sich hier keine Zeitdehnung sondern es wird
eine Reihung typologisch gleichartiger, vom Abriss bedrohter
Objekte gezeigt. Das Konzept liegt in der breit angelegten
Dokumentation einer Realität, welche zum Zeitpunkt der Bild-
veröffentlichung bereits Geschichte geworden ist.
Über Kunst und Fotografie ist hundertfünfzig Jahre lang dis-
kutiert worden. Die Feststellung Fotografie sei keine Kunst ist
dabei ebenso absurd wie die Feststellung Malerei sei Kunst.
Schließlich sind beide lediglich technische Verrichtungen,
um ein Bild auf eine Oberfläche zu bringen. Fotografie kann
immerhin der größte Kitsch und Malerei der größte Schmier-
kram sein. Das Künstlerische beider Arten der Bildgebung
entsteht jeweils erst aus der Höhe der Gestaltungskraft
heraus. Was das ist, wird allerdings unterschiedlich wahrge-
nommen. Die Tatsache, dass der Fotograf für die Anfertigung
eines künstlerisch wirksamen Bildes im Allgemeinen weniger
Zeit aufwendet als der Maler, spricht eher für die Fotografie.
Allein mit dem Argument des geringeren Zeitaufwands für
seine Anfertigung lässt sich einem eindrucksvollen Bild die
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