Page 161 - Win Labuda Bildermacher
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Für den modernen Fotografen kommt die Fotografie nicht
mehr quasi als Überraschungsprodukt aus der Entwickler-
schale. Für ihn ist sie in vielen Fällen zum „digitalen Malerpin-
sel“ geworden. Im Rahmen der erweiterten Möglichkeiten der
Nachbearbeitung fotografischer Bilder durch die Digitaltechnik
wurden diese anfangs zögerlich, heute gewohnheitsmäßig im
Sinne des gestaltenden Fotografen verändert.
Fünfte These: Die Anzahl der von der Öffentlichkeit als
bedeutend erkannten Werke der Fotokunst ist begrenzt.
Das Phänomen „fotografische Bilderflut“ in dem Sinne, dass
Fotokunst unübersehbar geworden wäre, soll hier zunächst
einmal infrage gestellt werden: Fotografische Bilder sind heute
in der Überzahl Verbrauchsprodukte der elektronischen Ver-
netzung unserer Gesellschaft. Die Art und Weise des Notierens
von Gedanken, Geschehnissen und die Übermittlung derselben
hat sich von der Textnotiz auf die Bild- und Sprechnotiz verla-
gert. Dies liegt vermutlich darin begründet, dass die Bildauf-
zeichnung heute erheblich schneller und leichter vonstatten
geht, als das Abfassen von Textbeschreibungen. Zwar wächst
die Anzahl der von uns gespeicherten Bilddateien aber diese
haben für uns nicht mehr die gleiche Bedeutung wie einst. So
sind auch fotografische Bilder - ganz im Stil unserer Lebens-
art - zum Wegwerfprodukt geworden. Daneben aber existiert
das Außergewöhnliche, das Elitäre im Wesen von Kunst.
Dies bedeutet wiederum, dass eine erhöhte Wertschätzung
immer nur auf eine begrenzte Anzahl von Objekten zutreffen
kann. Stellt man sich eine Museumswand vor, die mit 100 der
schönsten Ikonen geschmückt wurde, dann entfaltet sich im
Betrachter nicht auch die 100-fache Wirkung einer Wand, auf
der nur eine einzige Ikone gehängt ist.
Sechste These: Die Leichtigkeit des Fotografierens und der
Bildbearbeitung machen Selektion und Verwerfung zu wesent-
lichen Teilen des künstlerischen Schaffens.
Die von der Fotoindustrie geschaffene Leichtigkeit des Foto-
grafierens hat es für Jedermann möglich gemacht, sich in
die Fotografie einzubringen. Beuys Kunst-Definition „Alles ist
Kunst und jeder ist ein Künstler“ findet in der Fotografie mit
künstlerischer Absicht schlechthin ihre auffälligste Entspre-
chung. Soll die künstlerische Fotografie nicht in der darob
entstehenden Beliebigkeit der in ihrem Rahmen geschaffenen
Werke versinken, dann muss Fotokunst für Jedermann nach-
vollziehbar definiert sein. Es darf daher angenommen werden,
dass schon bald ein nicht geringer Teil der heute als Fotokunst
bekannten Werke von Bedeutungsverlust betroffen sein wird.
In dem „Abschiedsband“ „Henri Cartier-Bresson - das Foto-
grafen-Porträt“ sind 155 Bilder gezeigt. Cartier-Bresson hat
nach 1975 bekanntermaßen nicht mehr fotografiert. Das heißt:
In 44 aktiven Jahren als Fotograf sind pro Jahr lediglich drei
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