Page 160 - Win Labuda Bildermacher
P. 160
das der in-szenierten, narrativen Fotografie von Jeff Wall oder
Gregory Crewdson entgegengebracht wird. Deren fotografische
Bildwerke sind vom Mittel der Inszenierung bestimmt. Der
Vorgang gründet auf künstlerisches Bestreben und ist prin-
zipiell dem Theatergeschehen verwandt. Er betrifft auch die
inszenierte Stilleben-Fotografie, wie beispielsweise diejenige
von Ian Blakemore (*1965), Imogen Cunningham (1883-
1976), Robert Mapplethorpe (1946-1989) und Josef Sudek
(1896-1976).
Zweite These: Fotografische Bilder wirken stets im Kontext
zur geistig-emotionalen Prägung ihrer jeweiligen Betrachters.
Es ist in diesem Zusammenhang interessant, die Reaktion
von Betrachtern einer bekannten Bildserie des brasilianischen
Fotografen Sebastiao Salgado zu beobachten: Die Bilder
zeigen tausende mit Erde beschmierter Menschen, die sich
auf engstem Raum in einer riesigen Grube befinden und diese
über schmale Leitern mit schweren Säcken beladen, verlas-
sen wollen. Wie selbstverständlich denkt der Betrachter an
eine bildhafte Anklage gegen die Ausbeutung brasilianischer
Minenarbeiter. Sagt man ihm, dass die Abgebildeten in Wahr-
heit private Goldgräber seien, so stellt sich zumeist nicht etwa
Erleichterung über den Irrtum ein, sondern eher Enttäuschung
über die Infragestellung der getroffenen Schuldzuweisung.
Dritte These: Fotokunst ist bestimmt von der narrativen Aura
des jeweils betrachteten Bildes.
Beispielhaft sei auf das Bild „Tomoko Uemura beim Bad“ -
Minamata 1972 von W. Eugene Smith (1918-1978) verwie-
sen. Abgebildet ist eine asiatische Frau, die ein anscheinend
geistesgestörtes Kind badet. Das Bild zeigt uns einerseits die
liebevolle Hingebung der Frau an das Kind und gleichzeitig die
Mühsal, welche mit dessen Pflege verbunden ist. Erst durch
die dem Bild anhängige Geschichte jedoch gräbt sich das
Bild in unser Gedächtnis und wird durch seine Beschreibung
zum Symbol: W. Eugene Smith war bekannt geworden, dass
das japanische Chemieunternehmen Chisso quecksilberhal-
tige Abfälle in die japanische Minamata-Bucht eingeleitet und
dadurch eine Methylquecksilber-Vergiftung vieler Anwohner
verursacht hatte. Das Kind, das die Frau badete, war durch die
Vergiftung mit Quecksilber geistig behindert. Nachdem Eugene
Smith 1971 die Fakten und dieses Bild in der amerikanischen
Zeitschrift LIFE publiziert hatte, wurde er im Januar 1972
durch eine von Chisso gedungene Verbrecherbande zusam-
mengeschlagen und schwer verletzt, so dass er am Ende auf
einem Auge erblindete. In diesem Fall erhält das Bild also
seine Bedeutung erst durch den moralischen Zusammenhang.
Vierte These: Zur bisherigen Authenzitätserwartung tritt in
Zukunft für einen Teil der Fotokunst auch noch die Gestal-
tungs-Erwartung hinzu.
160