Page 55 - Win Labuda Bildermacher
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Lediglich die Tatsache, dass die Skulptur im Gegensatz zu
Zeichnung, Gemälde oder Fotografie eine Raumforderung stellt
und dies oftmals an exponierten Orten, beschert ihr einen
höheren Präsenzgrad als anderen Kunstformen. In dem Maße,
wie Skulptur mir ein Höchstmaß an dreidimensionaler Präsenz
vermittelt, versagt sie mir aber auch einen leicht schweben-
den Fluss ihrer künstlerischen Inhalte hinein in die Räume
meiner Vorstellung. Zeigt sie mir doch Grenzen auf, welche
vornehmlich in diesem, ihrem gelegentlichen Mangel an Farbe
und Bewegtheit gründen. Ich versuche deshalb, im Betrachter
mit den Mitteln der Fotografie eine Illusion von Bewegtheit
zu vermitteln. Dies erreiche ich durch die Bewegung meiner
Kamera zum Zeitpunkt der Aufnahme. Dabei entsteht eine
„Bewegungsunschärfe“, ganz als hätte sich das Objekt selber
bewegt. Gelegentlich gebrauche ich auch die Möglichkeit, eine
Skulptur, deren Umgebung und das einfallende Licht kompo-
sitorisch so zu vereinen, dass aus der Komposition heraus ein
neuer Bildgedanke kenntlich wird.
Fotografie und Skulptur sind ja auf seltsame Art miteinander
verwandte Gebilde. Die eine ist Form und die andere ist Abbild.
Das Abbild bleibt stets ein Kind der Form. Durch die fotografi-
sche Technik des Verwischens der Form beispielsweise wird die
fest gefügte Skulptur plötzlich zur Illusion von der ursprüng-
lichen Gestalt, gewissermaßen wieder auferstanden aus der
erstarrten Welt der fixierten Figur. Als Fotograf gilt mein Inte-
resse der Erweiterung von Skulptur im Sinne von Befreiung
aus der Erstarrung und Sichtbarmachung eines lebendig sich
verströmenden Wesens. Eben dies versuche ich mit der von
mir bevorzugten fotografischen Technik. Das Resultat aller-
dings – und an diesem Punkt scheint das Ganze zum Absur-
dum zu werden, ist dann keine Skulptur mehr. Ich benutze die
Skulptur lediglich für meinen endlichen Zweck, sie ist für mich
ein Zwischenprodukt geworden, ein Zwischenprodukt auf dem
Weg zu einer von den Kräften der Gravitation befreiten Form.
NL - Zwei deiner Serien befassen sich mit Formen
und Strukturen, die der Mensch in einem bestimmten
Kontext oder Umfeld geschaffen hat. Einzige Ausnahme
bildet die Serie Anfang der Zeit. Wie ist dieser Werkteil,
der nahezu abstrakte Dimensionen aufweist, im Kontext
deines Gesamtwerkes zu verstehen?
WL - Die Reihenfolge meiner Serien muss man so sehen, dass
die Serie Anfang der Zeit ganz hinten in der Reihe an vierter
Stelle steht. Man muss sie also symbolisch als Urmasse, als
den Beginn der Menschheitsgeschichte verstehen, aus dem
heraus alles begann. Das ist ihre Qualität, und so darf sie zu
diesem Zeitpunkt noch nicht Struktur sein. Sie ist das Unge-
formte, Unbewohnte, gewissermaßen der materielle Urzustand
vor der Aneignung durch den Menschen. Die folgenden Serien
stehen dann beispielhaft für das menschliche Wirken in selek-
Abb. 6 Horizont 9, 2008, FH 083 aus der Serie „Anfang
der Zeit“ tierten Bereichen der Menschheitsgeschichte. Sie entwickeln
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